Der Wanderstiefel

Das Bergwandern ist eine nur wenig intrumentell gestützte Tätigkeit, denn der Leib selbst ist alleiniges Mittel zur Überwindung von Steigungen, Gefällen, Bächen, Geröllfeldern sowie längeren Raumdistanzen und dabei gleichzeitig Träger aller lebensnotwendigen Dinge. Weil die Tätigkeit des Wanderns fast ausschliesslich auf den eigenen Körper und seine Bewegung in einem Naturraum Bezug nimmt, ermöglicht sie mehr noch als andere ein direktes, unmittelbares Spüren eigener Stärken und Schwächen; Kraft wird dabei nicht nur in Augenschein genommen wie beim Anblick einer Kurbelstange, sondern als leibliche Bewegung erfahren.

Dadurch, dass sich diese Art der Fortbewegung auf reine Selbstbewegung beschränkt, bekommt der Raum eine subjektive Tiefe: er wird leiblich erlebt, im Unterschied zum Zugfahren, bei dem man transportiert wird. Der Passagier nimmt die Landschaft durch das Fenster seines Abteils lediglich in Augenschein, sie riecht und schmeckt nicht mehr, zieht wie auf einer Leinwand an ihm vorüber und wird schließlich monoton (Waldenfels 1985). Sie büßt auf diese Art und Weise ihre Dichte und Hintergründigkeit ein, das Gefühl für Distanzen geht verloren. Der Wanderer hingegen weiß dies alles zu schätzen, er genießt den Anblick auf eine Landschaft, weil er sie mit allen seinen Sinnen wahrnimmt und in ihr selbst Entfernungen zurückgelegt hat, "Anschauungs-, Stimmungs-, und Handlungsraum" (Waldenfels 1985) sind noch eins; er kann sich in ihr auch nicht verlieren, da er immer einen festen Standpunkt einnehmen kann, seine Betrachtung ist Reflexion eines "leibhaften Weltbewohners".

Im Wandern kann man geradezu einen gegenkulturellen Habitus der Fortbewegung erkennen, auch im Hinblick auf moderne Konzepte von Bildungsbewegungen in Form von Lernzielen, Curricula und empirisch erfassten Lernfortschritten. Das Wandern ist eine "zielentlastende Bewegung" (Waldenfels 1985), der Weg und das Schreiten sind wichtiger als das Ziel, die Gegenwart bedeutender als die Zukunft, auch wenn man irgendwo ankommen will. Der Raum wird nicht geographisch objektiviert und durchmessen, vielmehr erschliessen sich dem Wanderer immer neue unvorhergesehene Horizonte. Dabei ist die Zeit keine Faktor, den es optimal zu nutzen gilt, sondern in viel stärkerem Maße ein Fortschreiten von Gegenwart zu Gegenwart, das auch zeitweiliges Innehalten erlaubt. [..]

Ganz nebenbei entstehen auch – unterstützt durch die gleichmäßige Bewegung, Lockerung des Körpers und die Beanspruchung aller Sinne – Gespräche über wichtige Lebenserfahrungen und Lebensfragen; Nicht ohne Grund wird in der Literatur von einer positiven Wirkung des Gehens auf das Denken verwiesen.

aus: Mollenhauer, Klaus, Uhlendorff, Uwe: Sozialpädagogische Diagnosen : über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen - Juventa, 1992, S. 130ff.

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